Es war einmal ein Herz, 

das schlug 100.000 mal am Tag – nicht mehr und nicht weniger. Es schlug nun einmal
soviel es nötig war. 

Das Herz war nicht von der gleichen feuerroten Farbe wie all die anderen Herzen,
sondern besaß nur ein schwaches blassrosa. 
Das schlimme war, dass es mit der Zeit immer mehr an Farbe verlor. Der Lebenskampf
hatte es geschwächt und obwohl es noch nicht sehr alt war, hatte es schon viele
Falten. 

Eines Tages war es auf die Idee gekommen einen Verschlag um sich zu bauen. So
suchte es den härtesten Stein für die Wände, das massivste Holz für das Dach und
den stärksten Stahl für die Tür. Nur so, dachte das Herz, konnte niemand mehr hinein
zu ihm um es zu verletzen – niemand konnte es mehr zerreißen. 

Endlich war es sicher. 

Nun saß das kleine Herz in seinem Verschlag, lugte hinaus durch die Fugen im Stein
und hörte über sich das Knacken des Holzes. Es war ziemlich dunkel und kalt dachte
sich das Herz. Aber es schloss einfach die Augen und tat was es immer tat – schlagen.
100.000 mal am Tag. 

Vor lauter Langeweile zählte das Herz jeden Schlag mit, bis es ihm überdrüssig
wurde. So vergaß es manchmal einen Schlag zu tun. 

Das Herz fragte sich, was es überhaupt noch für einen Sinn hatte zu schlagen. 

Was das Herz vergessen hatte war, dass es sich zwar in Sicherheit vor allem Bösen
befand, es niemand mehr verletzen und enttäuschen konnte, dass aber auch niemand
mehr hineinkommen würde, der mit ihm lachen täte - jemand der Purzelbäume mit ihm
schlagen würde und es wärmte. 

Nach einiger Zeit fing das Herz an darüber nachzudenken. 
Es merkte einen fatalen Fehler begangen zu haben. Mit aller Kraft versuchte es die
Stahltür aufzudrücken, doch sie war zu schwer, als dass sie sich bewegen ließ. 

So begann es gegen die Steinwände zu hämmern, doch außer das sich ein paar Brocken
lösten, passierte nichts. Der Stein war zu gewaltig. Als es sich am Dach zu schaffen
machte, zog es sich nur einen dicken Splitter zu. 

Panikartig saß das kleine Herz in seinem selbstgebauten Gefängnis und schlug
mindestens doppelt so schnell wie sonst. Wie konnte es nur den Schlüssel in all seiner
Trauer vergessen? Das Herz verfluchte sich für sein elendes Selbstmitleid. 

Wie gern würde es sich jetzt den Stürmen des Lebens hingeben, sich vor Angst
zusammenkrampfen, vor Freude hüpfen, wenn es nur könnte. 

Es schaute durch das Schlüsselloch hinaus in die Welt und sah die anderen Herzen.
Einige waren blass so wie es selbst. Sie schlichen durchs Leben geduckt und allein.
Andere wiederum sprangen in leuchtendem Rot – Hand in Hand über Stock und Stein,
unerschrocken und gestärkt vom anderen. 

Doch was das Herz dann sah ließ es staunen und es konnte seine Tränen nicht
verbergen. Da lagen Herzen im Staub mit Füßen getreten. Sie waren weiß und regten
sich kaum noch. Sie schlugen vielleicht noch 20 mal am Tag. 

Niemand kümmerte sich um sie, denn auch sie hatten einmal den Schlüssel ihres
Gefängnisses so gut versteckt, dass niemand ihn fand. 

Da fühlte das Herz um ersten Mal, dass es ihm noch gar nicht so schlecht ging. Noch
war es rosa und noch fühlte es etwas. Es musste nur diesen Schlüssel finden zu seiner
Stahltür. So machte es sich auf die Suche und probierte alle Schlüssel die es finden
konnte. Es probierte sogar Schlüssel, von denen es von Anfang an wusste, dass sie
nicht passen würden. 

Nach einiger Zeit merkte das Herz, dass es wieder einen Fehler begangen hatte. Es
war zu unüberlegt, zu krampfhaft an die Suche gegangen. 

Es verstand, dass man das Glück nicht erzwingen kann. Frei ist man nur, wenn man frei
denken kann. Das Herz entspannte sich erst einmal und beschäftigte sich mit sich
selbst. Es schaute in den Spiegel und begann sich so zu akzeptieren wie es war,
blassrosa und faltig. 

Es spürte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen und eine innere Gewissheit, dass es
auf seine Art und Weise wunderschön war. 

So fing es an zu singen, erst ganz leise und schnurrend und nach und nach immer
lauter und heller, bis es ein klares zwitschern war, wie das eines Vogels am Himmel. 

Durch den hellen Ton begann der Stein an einer Stelle nachzugeben. 
Mit riesengroßen Augen starrte das kleine Herz auf diese Stelle, wo ein goldenes
Schimmern zu sehen war. 

Das Herz traute seinen Augen nicht. Da war der Schlüssel, den es damals mit in den
Stein eingemauert hatte. Das hatte es durch all seinen Schmerz und Selbstmitleid
vergessen und jetzt wo es den Schlüssel in der Hand hielt, fiel es ihm wieder ein, wie
es ihm vor all den Jahren so sicher erschien, ihn nie wieder zu brauchen. Langsam und
voller Bedacht den Schlüssel nicht abzubrechen, steckte das Herz ihn ins Schloss. 
Mit lauten Gequietsche schob sich die schwere Stahltür zur Seite. Das Herz machte
einen Schritt nach draußen, schloss die Augen und atmete tief die frische Luft ein. 

Es streckte die Arme aus, drehte und wendete sich, blickte nach oben und nach unten
und hörte gespannt mal hierhin und mal dorthin. 

Das Herz dachte wie schön das Leben doch sei, machte einige Hüpfer und begab sich
auf den Weg um Freunde zu finden. 

Den ersten den es traf war ein lustiger Geselle, der das Leben zum schießen komisch
fand und über 1000 Freunde hatte. 

Nachdem das Herz einige Zeit mit ihm verbrachte, mit ihm alle erdenklich lustigen
Sachen anstellte, merkte das Herz, dass diesem „Freund“ einiges fehlte, - Der
Tiefgang !
Was war das für ein Freund, mit dem man nur lachen aber nie weinen konnte? Mit dem
es nur durch „dick“ aber nie durch „dünn“ gehen würde. 

So zog das Herz weiter, allein, aber reich einer neuen Erfahrung. Bis es auf eine
Gruppe anderer Herzen stieß. Es wurde direkt freundlich in ihre Mitte aufgenommen.
Es war ein ganz neues Gefühl von Zugehörigkeit. 

Da war nun eine große Gruppe, wie eine Familie die zusammenhielt, wo alle gleich
waren. Jeden Morgen standen sie gemeinsam auf, tranken den gleichen Tee, aßen vom
gleichen Brot und gestalteten jeden Tag gleich. 

Das Herz war glücklich – eine Zeitlang, bis es spürte, dass auch dies nicht das richtige
Ziel sein konnte, denn auch seinen vielen neuen Freunden fehlte etwas, - Die
Individualität 

In ihrer Mitte gab es keinen Platz für jemanden, der eigenständig war und sein Leben
selbst planen wollte. Also löste sich das Herz auch aus dieser Verbindung und genoss
sein eigenes Leben. Es ging über 112 Wege, um 203 Kurven und 24 Berge und Täler,
bis es an einem Haus ankam, das mit Stacheldraht umzogen war. 

Aus dem Schornstein quoll Rauch, das hieß, dass tatsächlich jemand in diesem Haus
leben würde. In einem Haus, das nicht einmal Fenster hatte. 
Bei diesem Anblick fiel dem Herz ein, wie es selbst einmal gelebt hatte. Wie sehr es
damals gehofft hatte, dass jemand ihm helfen würde und doch niemand sein stummes
Flehen erkannt hatte. 

Es wusste, dass es ihm aus eigener Kraft gelungen war und es war sehr stolz darauf. 

Aber wie konnte es diesem armen Herzen helfen aus seinem Verlies zu kommen? 

So besorgte sich das Herz eine Drahtschere und versuchte den Stacheldraht zu
durchtrennen. Aber nach einiger Zeit verließen es die Kräfte. 

Auch dieses Herz hatte keine Mühe gespart, für sich den stärksten Stacheldraht zu
finden. Obwohl das Herz das andere nicht sah und auch nicht hörte, sondern nur
ahnen konnte was das für ein Herz war, fühlte es eine starke Bindung zu ihm. 

So grub es ein Loch im Boden unter dem Stacheldraht, um dem anderen wenigstens
nah zu sein. So stand es vor seinem Haus, vor der gleichen dicken Stahltür wie einst
seiner und begann zu reden. Tagelang, nächtelang stand es einfach nur da und redete. 

Es erzählte von seinem Schicksal. Erzählte ihm, was ihm alles in seinem Leben
widerfahren war und es hörte ein Schluchzen hinter der dicken Tür. Unermüdlich
sprach das Herz weiter. Über die lustigen Sachen, die es mit seinem ersten „Freund“
erlebt hatte, über die Wärme, die es bei seiner Familie erfahren hatte und es vernahm
ein leises glucksen von innen. Erst leise, bis es immer lauter sich in ein gellendes
Lachen verwande. 
Plötzlich sprach das Herz hinter der Stahltür zu ihm. Es wollte hinaus zu ihm und es
sehen. Es wollte sich an seine Schultern lehnen, sich an es drücken und es nie wieder
verlassen. Das Herz war glücklich endlich so jemanden gefunden zu haben, aber was
sollte es nur tun? 

Wie auch bei ihm früher, wusste das andere Herz nicht mehr wo es den Schlüssel
versteckt hatte. 

So fasste das Herz den Entschluss loszugehen um den Schlüssel zu suchen. Nur wo
sollte es anfangen? Es lief ziellos umher, suchte hinter den Büschen, auf Bäumen,
tauchte in Seen danach, fragte alle die seinen Weg kreuzten, aber niemand wusste Rat
und nirgends fand es den Schlüssel. 

So ging es mit schweren Herzen zurück zu der kleinen Hütte. Krabbelte durch das
Loch unterm Zaun um die schlechte Nachricht zu überbringen. 

Doch zu seinem Erstaunen fand es die schwere Stahltür geöffnet. Wie war das
möglich gewesen? – dachte das Herz. 

Plötzlich hörte es eine freundliche und liebevolle Stimme hinter sich. Da sah es ein
kleines blassrosa Herz stehen mit glühenden Wangen. 
„Ich habe hier auf Dich gewartet“ sagte das kleine Herz. 
„Ich habe erkannt, dass man es im Leben nur aus eigener Kraft schaffen kann aus
seinem Gefängnis zu entkommen. Doch so viel Kraft konnte ich nur durch dich
erlangen. Durch deine Liebe zu mir und meiner Liebe zu dir habe ich den Schlüssel zur
Tür meines Herzens gefunden, der mir gleichzeitig die Tür meines Verlieses öffnete“. 

Sie nahmen sich an die Hand und gingen von nun an alle Wege gemeinsam, ihr
Herzschlag im gleichen Rhythmus bis an ihr Lebensende.

 

Anonymous